Windows Blue: Auf gutem Kurs?

Seit vorgestern ist also eine Vorabversion von Windows Blue, dem Nachfolger von Windows 8 in’s Web entfleucht. Ziemlicher Zufall: Ich hatte vor einigen Tagen einen Beitrag auf Vorrat geschrieben, der hier Sonntag-Nacht online ging. Daher war es ein Leichtes, noch die ersten Erkenntnisse zur Build 9364 einzuflicken. Nachdem sich der Staub etwas gelegt hat, ist es vielleicht Zeit, sich zurück zu lehnen und mal den Blick auf das große Ganze zu werfen.

Wie bereits gestern im Bericht angedeutet, ist die geleakte Build noch eine sehr frühe Entwicklerversion (Milestone M1), die weit von der endgültigen Version entfernt sein dürfte. Das Setup und viele Funktionen gleichen 1:1 Windows 8 – soweit auch nicht überraschend. Was an Neuerungen zu verzeichnen ist, spielt sich wohl weitgehend auf der Modern UI-Oberfläche und bei den Apps ab.

  • Man kann über Farbpaletten den Hintergrund bzw. das Farbschema der Startseite (wie oben gezeigt) etwas besser anpassen.
  • In der Charms-Leiste gibt es einige neue Einträge wie Play für Geräte oder Share für den Desktop.
  • Man kann auf der Startseite die Kachel nun in einer weiteren Größe darstellen lassen (siehe folgenden Screenshot).

  • Und auch die Möglichkeit zum Anordnen mehrerer App-Seiten am Bildschirm scheint verbessert. So berichten Anwender, die Zugriff auf die Build haben, dass die Dock-Möglichkeiten wohl über mehrere Monitore gehen sollen und man bis zu vier App-Seiten nebeneinander anzeigen kann. Auch die Beschränkung, dass das erst ab 1366 x 768 Pixel Auflösung geht, scheint gefallen (es wird behauptet, dass das auch schon bei 1.024 x 768 Pixel funktionieren soll – ich kann’s nicht testen).

Ach ja, ein paar neue Apps wie Audiorecorder, Alarm-Uhr, Rechner, was mit Videos und ein (noch nicht funktionierender) Metro-Explorer mit Touchunterstützung werden kolportiert. Hier ein Screenshot des Taschenrechners.

Wer “Bilder” ansehen will, findet auf dieser Webseite eine ganze Galerie an Screenshots. Zudem finden sich in meinem gestrigen Beitrag Windows Blue: Neue Infos gefällig? einige verlinkte Videos, die weitere Details zeigen.

Was fehlt da? Sind wird auf gutem Kurs?

So weit so gut – einiges gefällt, wie zum Beispiel die kolportierte Möglichkeit, App-Seiten auch bei kleiner Bildschirmauflösung nebeneiander anzeigen zu können – passt zu meinem Artikel Bringt MS Windows-Tablets für 199 $ – 349 $. Aber wie ist das Ganze zu sehen?

Auch wenn es noch ein früher Milestone-Build ist, werde ich das Gefühl nicht los, dass da was in die falsche Richtung läuft. Oder anders ausgedrückt: Ich glaube, ich bin nicht mehr mit der Vorstellungswelt von Microsoft kompatibel. Mal ganz langsam zum Mitschreiben.

  • Es gibt Tablet PCs, auf denen Windows Blue noch besser laufen soll. Da ist es natürlich gut, wenn es dort Verbesserungen gibt. Da spucken wir nicht drauf.
  • Aber es soll irgendwo eine große Basis Desktop-Anwender geben, die mit 24 Zoll-Bildschirmen arbeiten und produktiv tätig sind. Diese Anwender haben sich bisher Windows 8 aber verweigert, weil sie mit den Apps und der Startseite nichts anfangen können.

Ich habe die letzten 30 Jahre einige Entwicklungen im IT-Bereich mitgemacht sowie Produkte kommen und genau so schnell verschwinden können. Ich kenne auch noch Betriebssysteme wie CP/M, MS-DOS sowie Betriebssystemaufsätze wie GEM oder Windows 1.0, 2.0. Irgendwann, Anfang der 90er Jahr ist dann etwas geniales passiert: Ausgehend von Entwicklungen im Xerox Parc kamen Firmen wie Apple und auch Microsoft auf den Trichter, den Anwendern so etwas wie Fenster zum Arbeiten auf dem Desktop anzubieten. Seit Windows 3.0 konnten die sich überlappen (es wurde eine Z-Achse als Ebene eingeführt) und vom Benutzer beliebig vergrößert oder nebeneinander angeordnet werden. Jeder organisierte sich den Desktop so, wie er seinem Gusto entsprach. Diese Handhabung verbesserte sich viele Jahre, bis zu Windows 7.

Und nun? Microsoft wendet sich von Fenstern ab, weil auf einem Smartphone so etwas nicht gängig ist. Ein App-Fenster nimmt den ganzen Bildschirm ein. Toll, wie geil ist das denn, die oben im Screenshot gezeigte Taschenrechner-App auf einem 24-Zoll-Bildschirm? Ok, war jetzt unfaire Dialektik, denn Microsoft will es mit Windows Blue ja ermöglichen, dass ich als Anwender gleich drei oder vier App-Seiten als schmale Bänder nebeneinander auf dem Bildschirm anzeige (aber die Z-Achse der überlappenden Fenster wird abgeschafft). Um etwas sehen zu dürfen, muss ich dann dieses schmale Band mühsam auf Breite ziehen oder darf vom linken Bildschirmrand wischen. Da wirkt es auf mich wie blanker Hohn, wenn mir eine Funktion “Slide to shut down” gezeigt wird, mit der ich das Gerät durch Wischen auf dem Desktop in den Ruhemodus fahre – irgendwie eine Kreation gelangweilter College-Studenten, die das Leben noch nicht verstanden haben.

Ist ungefähr so, als ob ich einem Bauarbeiter, der die Straße mit einem Presslufthammer aufstemmen soll, dieses Werkzeug wegnehme. Und weil er sich beschwert, gebe ich ihm gnädig einen Hammer und einen Meißel und sage “Da haste Werkzeug, jetzt mach mal”. Gut, das Beispiel hinkt jetzt etwas, verdeutlicht aber das Kernproblem: Der Anwender weiß eigentlich selbst, was für ihn gut ist. Und jeder hat seinen eigenen Anforderungen an Werkzeuge sowie pflegt einen eignen Arbeitsstil. Ergo: Gib ihm die geeigneten Werkzeuge sowie Freiheit, seine Arbeit so zu tun, wie er es am besten zu erledigen können glaubt. Er wird sich nicht an deinen Produkten reiben und sie vielleicht sogar lieben.

Microsoft ist sowohl bei Business-Anwendern als auch bei Konsumern in meinen Augen mit Windows 8 kräftig gegen die Wand gefahren. Viele bleiben bei Windows 7 und warten erst mal ab. Gut, es gibt die Leute, die einen unbedingt von der neuen Startseite begeistern wollen – nix hat sich gegenüber Windows 7 geändert – man muss sich auf “Windows 8 einlassen wollen” und was ich alles so hören und lesen kann. Ich will das aber alles nicht – Punkt. Neues hat dann eines Chance, wenn es mir nützt! Windows 7 reicht mir als Produktivbasis voll und ganz aus. Wenn ich ein Tablet brauche, greife ich zum iPad oder zu einem Androiden. Bei Windows 8 kann ich leider nicht den Vorteil erkennen, um da meine alten Systeme zu dumpen und auf die neue Welt umzusteigen. Gut, hier laufen einige Windows 8-Systeme zum Test. Ändert aber nichts an meiner Einstellung, dass ich so was nicht als Produktivsystem haben will – da beißt die Maus kein Faden ab.

Ich hatte ja vor ein paar Tagen mal den Artikel Verbesserungswünsche für Windows Blue … verfasst, wo ich ein paar Essentials niedergeschrieben habe, wie Microsoft einiges retten könnte. Statt jetzt auf die Kundenbasis zuzugehen, und die größten Kritikpunkte wie fehlende Möglichkeit, direkt vom Desktop aus zu arbeiten, ein Startmenü einzubauen sowie Apps in Fenstern auf dem Desktop ablaufen zu lassen, setzt Microsoft uns (nach meinem aktuellen Eindruck) weitere Apps vor und präsentiert Funktionen wie Backup auf SkyDrive, Slide to shut down etc. Manches wurde ver-(schlimm)bessert, aber im Kern ist der Milestone 1 nix anderes als Windows 8. Das ist nicht der Kurs, den ich mir vorstelle.

Irgendwie ist mir heute ein Bild durch den Kopf geschossen: Blick auf’s Meer, ein paar Kilometer voraus ein Schiff namens Windows 8 von der Firma Microsoft gesichtet. Die sind gerade kräftig über ein paar Klippen gerauscht. Das Schiff ist zwar nicht untergegangen, aber etwas ramponiert. Die Versuche, den Steuermann per Funk auf den richtigen Kurz zu bringen, schlugen fehl. Der hörte nicht und behauptete, genau zu wissen, wie er steuern müssen. Statt nun den Kurs neu zu bestimmen, um in sicheres Fahrwasser zu kommen, lässt der Steuermann die Schiffsturbinen nur noch ein paar Umdrehungen schneller laufen und hält ‘volle Kraft voraus’ auf die nächste Klippe zu. Na ja, er wird schon sehen,  was er davon hat. O-Ton aus einem Forum:

Thanks for the vid. I’m not going to install the new 8 in VM myself though, but I will keep track of how Windows evolves. And your vid made that a lot easier. Unfortunately basically everything (including settings) is still a touch-centric, tile-based UI. Works fine on tablets, but it will never feel and look right using it on a Desktop/Laptop. Microsoft is going to have a hard time trying to convince people otherwise. In my opinion Microsoft just needs to let go of the ‚one-OS-fits-all-devices‘ approach.

Man kann sich natürlich auch mal die Kommentarlage z.B. bei heise.de hier anschauen (obwohl man auch da Abstriche machen sollte). Sieht alles nicht so dolle aus. Würde mich stark interessieren, ob nicht in letzter Sekunde doch noch ein Kapitän “mit Plan” auf der Brücke erscheint und den Kurs entscheidend korrigiert.

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Links:
1: Screenshot-Galerie bei microsoftcollectionbook.com

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