Andere Länder, andere Sitten – und auch Essgewohnheiten? Bei meinen Arbeitsaufenthalten wurde ich von den japanischen Kollegen häufiger in gute, traditionelle japanische Restaurants eingeladen. Eine spezielle Begebenheit ist mir in Erinnerung geblieben und soll hier erzählt werden.
Ich muss gestehen, ich habe das japanische Essen, speziell den rohen Fisch, genossen. Alles, was in Japan auf den Tisch bzw. in die Schale kommt, ist frisch und ohne Komplikationen zu essen (wenn man für meinen Fall mal von Nattō – oder wie Gaijin-San streikte absieht). In einem traditionellen japanischen Restaurant wird sitzend auf dem Boden, an einem niedrigen Tisch gegessen. Als Zugeständnis an westliche Gäste (und auch die Japaner) sind dort aber Sitzschalen mit Rückenlehne um den Tisch gruppiert. Kann man sich wie einen Stuhl in Konzertsälen vorstellen, bei dem die Füße abmontiert wurden, so dass nur noch die Sitzschale mit Rückenlehne übrig bleibt.
Auf dieser Webseite sind einige Fotos solcher Speiseräume zu sehen. Das war der meist unangenehmere Teil des Abends, da mir die Beine irgendwann weh taten. Aber einige japanische Kollegen verrieten mir insgeheim, dass es ihnen ebenso ginge und sie einen richtigen Tisch mit Stühlen gemäß westlichem Vorbild bevorzugten. Die niederen Tischen hatte im traditionellen Japan noch den Vorteil, dass man im Winter eine Schale mit glühenden Kohlen unterstellen konnte. Tischdecken hielten die Wärme unter dem Tisch und die Füße der Gäste wurden in den ungeheizten Räumen warm.
Traditionelles Restaurants mit japanisches Essen hatten noch einige Besonderheiten. Im Hintergrund erklang eine Melodie eines japanischen Zupfinstruments und man konnte das Essen (Fische, Seeschnecken etc.) beim Betreten in einem Aquarium auswählen. Dann wurden die Tiere getötet und mit diversen Kräutern sowie Soja-Soße und Wasabi roh serviert. Schmeckte immer sehr gut, nur das Innere von Seeschnecken war immer recht bitter – und Tintenfisch hatte die Konsistenz eines Fahrradschlauchs aus Gummi.
Die Begebenheit, die ich nun erzähle, spielte sich beim dritten Arbeitsaufenthalt ab. Ich war mit einem Mitarbeiter (mit deutsch türkischen Wurzeln) zur Anlageninbetriebnahme vor Ort. Der Chefingenieur hatte uns am Abend mit einigen Mitarbeitern in ein Restaurant eingeladen. Als wir so um die Tisch saßen, und er mich anblickte, wusste ich, dass ihm der Schalk im Nacken saß. Bei mir probierte er das nicht mehr, da er bei den ersten beiden Arbeitsaufenthalten diesbezüglich bei mir keinen “Stich” bekam – und einige Male sogar von mir mit den eigenen Waffen geschlagen wurde. Aber nichts desto trotz, ich mochte Thoma San, seines Zeichens Chefingenieur, immer zu einem Späßchen aufgelegt, aber als Bauernsohn nicht wirklich in der feinen japanischen Gesellschaft angekommen (da litt der Gute etwas drunter).
Jedenfalls saß die Mannschaft um den Tisch, er meinem Kollegen und mir gegenüber. Dann begannen die in Kimonos gekleideten Kellnerinnen die bestellten Speisen aufzutischen. Typisch japanische Kost: Miso Suppe, Shushi, irgendwelche Blüten und Kräuter, Wasabi (japanischer Rettich), Soja-Soße, dünn geschnittener eingelegter Ingwer (Gari) und einiges mehr (siehe auch diese Seite und hier). Vor den Chefingenieur hatte eine Kellnerin eine Schale mit einem ganzen Lachs auf den Tisch gestellt. Dieser lag gekrümmt auf dem Eis und wurde kühl gehalten. Daneben stand eine Lackschale mit irgend einem Snack drin.
Mein Mitarbeiter fragt mich, was wohl in der Lackschale sei. Ich entgegnete “wonach sieht es denn aus? Ich halte es für getrocknete Tausendfüßler”, nahm ein Stäbchen und fischte mir ein paar von den Teilen aus der Schale, um diese genüsslich zu verspeisen. Wenn ich eines wusste, war, dass Japaner nichts schlechtes essen, keinesfalls Ungeziefer. Ich habe die “getrockneten Tausendfüßler” als getrocknete, frittierte und gesalzene Fischgräten von ganz kleinen Fischen identifiziert (mag mich aber täuschen). Jedenfalls schmecke das Ganze leicht salzig aber ganz gut. Mein Mitarbeiter schluckte nur heftig und man sah, dass ihm erst einmal der Appetit verging.
Der Chefingenieur hatte das wohl mit bekommen, grinste und drehte die Schale mit dem Fisch so, dass die Augen des Tieres in Richtung meines Mitarbeiters blickten. Dieser schluckte erneut und ich wusste, was in ihm vorging. Viele Menschen verlieren den Appetit, wenn sie einem toten Tier in die Augen schauen. Aber das Ganze war noch steigerungsfähig. Thoma San nahm seine Essstäbchen und tippe dem Fisch auf das halb geöffnete Maul. Dieser begann dann zu schnappen – es sah so aus, als ob das Tier noch leben würde. Das ist auch von Karpfen bekannt, dass elektrische Reize beim Legen in eine heiße Pfanne in der Muskulatur zu Bewegungen führen, auch wenn das Tier längst tot ist. Durch die Kühlung auf dem Eisbett waren diese Reize beim Fisch ebenfalls noch erhalten. So extrem wie in diesem YouTube-Video war es nicht, der tote Fisch lag normalerweise reglos auf dem Eisbett.
Mein Mitarbeiter schluckte erneut und war nicht mehr in der Lage, das Essen zu genießen. Da nahm der Chefingenieur sein Essstäbchen, positionierte diese am Fisch und zog ein Stück heraus. Ein Shushi-Meister hatte den Fisch in einem Stück filetiert – und zwar so, dass dieser ganz blieb und man die Schnitte nicht sah. Aber mit Stäbchen konnte man die filetierten Stücke entnehmen – das Tier war also definitiv tot. Essen in Japan ist also ganz schmackhaft aber nicht immer etwas für zartbesaitete Europäer.
Postscript: Als ich dem Mitarbeiter verriet, dass der Snack wohl Fischgräten seien und der Lachs bereits halb gegessen war, fing er sich und konnte das japanische Essen sogar genießen.