Gaijin-San im Ryokan …

Da stand ich nun, vor einem unscheinbaren Eingang mit einem Holztor – dem Ziel meiner zukünftigen Nächte. Nachdem ich im vorherigen Hotel die Zimmerrechnung bezahlt hatte und im Besitz meines Reisegepäcks war, verfrachtet mich mein Kollege, Herr Mamamote, in ein Taxi und ließ uns zum Ryokan fahren.

Ryokan, das ist ein traditionelles japanisches Hotel, wo die Gäste in Zimmern auf Tatami Matten wohnen und schlafen. Die Türen sind in traditioneller Weise als Schiebetüren, bestehend aus einem mit Papier bespannten Holzgitter, ausgeführt. Wohnen im Ryokan bedeutet daher, sich der traditionellen japanischen Lebensweise anzupassen. Dies beginnt mit dem Ausziehen der Straßenschuhe beim Betreten des Ryokans und reicht bis zum japanischen Bad (Ofuro oder Onsen) oder dem Frühstück im Gemeinschaftsraum.

Aber das wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Vielmehr erlebte ich die Schlüsselszene, die diesem Blog ihren Namen geben sollte.

Als ich mit dem Reisegepäck dem Taxi entstieg, traten wir durch die Holztür in eine Art Vorraum. Dieser diente zum Wechsel des Schuhwerks, sprich: beim Eintreten wurden die Straßenschuhe ausgezogen und durch braune Lederslipper (Surippa) ersetzt. Beim Verlassen des Hotels galt es, die Pantoffel abzugeben und die Straßenschuhe anzuziehen. Das Aushändigen des jeweiligen Schuhpaars oblag einem älteren Herrn, der die Funktion eines Hausdieners innehatte.

Als wir nun eintrafen und der ältere Herr den Gaijin erblickte, verschwand er blitzartig im Innern der Herberge, um kurz darauf mit der Besitzerin zurückzukehren. Herr Mamaoto stellte mich der Besitzerin auf japanisch als den avisierten Gast vor, der ein Zimmer beziehen sollte. Die Besitzerin gab eine kurze Anweisung an den älteren Herrn und ich wollte schon mein Reisegepäck aufnehmen, um das Hotel zu betreten. Aber dann passierten gleich zwei Sachen. Herr Mamamote wies mich auf englisch darauf hin, dass innerhalb des Ryokan keine Straßenschuhe erlaubt seien und wir ein entsprechendes Paar Hausschuhe benötigten. Diese Maßnahme war nachvollziehbar, diente sie doch einerseits zum Schutz vor Straßenschmutz, der durch den Wechsel des Schuhwerks nicht ins Hotel getragen werden konnte. Der zweite Grund: Die weichen Hausschuhe boten einen guten Schutz für die überall ausgelegten Tatami-Matten. Diese sind aus Reisstroh gefertigt und werden durch Straßenschuhe schnell abgenutzt oder beschädigt.

Die zweite Sache, die nun passierte, verunsicherte mich aber schon. Der ältere Herr, der wohl als Kalkfaktor fungierte, hob plötzlich mit hoher Stimme an, mit der Besitzerin des Ryokan zu diskutieren. Während die Besitzerin, eine ältere Japanerin, wenig sagte, schwadronierte der ältere Japaner immer lauter und deutete gelegentlich auf mich. Mein japanischer Kollege schaute dem kommentarlos zu, während ich der Debatte interessiert zusah. Ich verstand zwar kein Japanisch, konnte aber dem aufgeregten Wortschwall des Herrn das immer wiederkehrende Wort „Gaijin“ entnehmen.

Dazu muss man wissen, dass Gaijin (外人) ursprünglich nur eine Umschreibung für (westliche) Ausländer war. Das Wort „jin“ steht in der japanischen Sprache für Mensch (sinnentsprechend bedeutet Gaijin so viel wie „der Mensch, der von draußen kommt“). So viel wusste ich – und es war mir bekannt, dass Gaijin in japanischen Kreisen auch als Schimpfwort galt (Langnase, war eine freundliche Umschreibung).

Ich machte mir langsam Sorgen, was da wohl abginge. Hatte der ältere Herr da Probleme mit einem Ausländer im Ryokan? Immerhin war Kawagoe damals  für mich „tiefste Provinz“ und das Hotelpersonal sprach offensichtlich kein Englisch.

Irgendwann bemerkte der Herr, dass ich der Diskussion „offenbar folgte“, und interpretierte dies so, dass der Gaijin wohl Japanisch verstand. Darauf brach sein Redefluss abrupt ab und er starrte mich für einen Augenblick erschrocken an. Dann hob das Palaver erneut an, wobei der Mann mittlerweile stark gestikulierend auf die Besitzerin einredete. Als ich aber im japanischen Wortschwall nun den Begriff „Gaijin-San“ statt „Gaijin“ vernahm, musste ich mich stark zusammenreißen, um mich nicht vor Lachen auf dem Boden zu kringeln. Skurriler geht es (n)immer. „Gaijin“ ist zwar das Wort für Ausländer, wird aber gerne als Schimpfwort gebraucht. „San“ ist eine der möglichen Höflichkeitsformen bei der Anrede (also wird Herr Hashimoto in Japan als Hashimoto-San angesprochen). Da dem Hausdiener keine andere Bezeichnung für den Fremden als „Gaijin“ einfiel, versuchte er die Situation zu retten, indem er einfach die Höflichkeitsfloskel „San“ anfügte. Gaijin-San lässt sich also in etwa mit der Anrede „hochverehrter Herr, Sie langnasiger, fremder Teufel, hinterfotziger Preiß“ vergleichen.

Irgendwann gab die japanische Besitzerin des Ryokan eine kurze Anweisung, worauf der ältere Herr nickte, um in gebückter Haltung in den dunklen Hinterräumen des Eingangsbereichs zu verschwinden. Nach kurzer Zeit erschien er wieder und hielt ein paar braune Lederslipper in Händen. Das gleiche Modell, wie ich es zu Hauf in einem Regel im Eingangsbereich des Ryokans bereits erspäht hatte. Nun stellte er die beiden Slipper mit vielen Verbeugungen vor mir ab und drückte mir gleichzeitig einen kurzen Holzstock in die Hand. Anschließend griff er hinter sich in ein Regal und holte ein zweites paar braune Lederslipper hervor, die er neben meinem japanischen Begleiter abstellte.

Und jetzt lichtete sich für mich auch etwas der „Nebel“, denn als ich die Slipper betrachtete, begann ich zu verstehen. Die Slipper entsprachen in der Form in etwa deutschen Badelatschen für Damen. Vorne waren die Slipper offen, um Platz für die Zehen zu lassen. Man konnte bequem hineinschlüpfen – und die „offene Bauweise“ erlaubte quasi eine „Einheitsgröße“ für die meisten japanischen Gäste.

Vor meinem japanischen Begleiter stand daher ein Paar Lederslipper, in einer Größe, die den Exemplaren entsprach, die wohl auch für andere Gäste in einem Regal im Eingang vorgehalten wurden. Mein Paar war dagegen mit weitem Abstand das größte Modell, was zu erblicken war. Der ältere Herr hatte offenbar auf Geheiß der Besitzerin die XXL-Ausgabe geholt. Als mein Begleiter nun sagte, dass ich diese Hausschuhe bitte im Ryokan tragen möge, begann ich meine Straßenschuhe auszuziehen. Als ich dann in die Slipper schlüpfte, wurde mir klar, dass diese wohl irgendwie Schuhgröße 41-42 aufwiesen – für Japaner extrem groß, für europäische Verhältnisse aber eher klein ausgefallen waren. Jedenfalls standen meine Zehen vorne ziemlich weit heraus, und mit den Fußsohlen schlürfte ich immer noch leicht über die Tatami-Matten. Der Hausdiener hatte wohl mit der Besitzerin über das Problem verhandelt, wie man die riesigen Füße des Gaijin mit Hausschuhen versorgen könne.

Auch das Rätsel mit dem Holzstock löste sich. Es war ein Vierkantholz, ca. 1 cm dick, 4 cm breit und gut 10 cm lang, auf dessen Querseite japanische Zeichen aufgemalt waren. Mein japanischer Begleiter informierte mich, dass dies quasi der „Hotelschlüssel“ sei – denn auf dem Brett stände meine Zimmernummer. Ich hätte die Zimmernummer 10, im japanischen als jū ausgesprochen. Wenn ich das Hotel verließe, solle ich das Brett dem Hoteldiener geben, der dann meine Schuhe an Hand der Nummer aushändigen würde. Bei der Wiederkehr solle ich die Nummer sagen, worauf ich das „Brett“ mit der Zimmernummer und meine Hausschuhe erhielte.

Als ich das Brett interessiert betrachtete, konnte ich die Zahl 10 aber nicht finden. Vielmehr war nur ein Kreuz aufgemalt. Auf meinen irritierten Blick reagierend, meinte mein Kollege, die auf dem Brett aufgemalten Zeichen seien Zahlen, die nicht in westlichen Ziffern, sondern in der japanischen Schreibweise geschrieben seien. Die Zahl 10 wird im Japanischen als 十 (jū) geschrieben.

Oh Schreck lass nach! Mir ging sofort durch den Kopf, dass ich dringend die japanischen Zahlen von 1 bis 10 lernen musste. Diese waren zwar in meinem Japan-Reiseführer aufgeführt – ich hatte es aber bisher nicht geschafft, die Zahlwörter zu lernen (zumal es mehrere Bezeichnungen für die Ziffern gab). Aber zuerst hieß es, der Herbergsbesitzerin zu folgen, die meinen Kollegen und mich durch zahlreiche verwinkelte Gänge zu meinem Zimmer führte. Nachdem die Schiebetür geöffnet wurde, mussten die Hausschuhe ausgezogen und vor der Türschwelle abgestellt werden. Im Zimmer solle man nur auf Socken unterwegs sein, um die Tatami-Matten zu schonen. Am hinteren Ende des Zimmers gab es dann eine Schiebetür zum Badbereich, wo ein zweites Paar weiße Hausschuhe auf ihren Träger wartete.

Nachdem mir kurz das Zimmer gezeigt wurde, verabschiedete sich der Kollege – die restlichen Details solle ich mit der Besitzerin klären, die mir auch alles zeigen würde. Der Kollege informierte mich, dass ich am nächsten Morgen, nach dem Frühstück, durch Frau Hashimoto abgeholt würde.

Ups, das nächste Abenteuer? Ganz so schlimm kam es nicht. Die, ich nenne sie mal, „Herbergsmutter“ zeigte mir noch den Frühstücksraum. Die einzige Herausforderung für mich war dabei lediglich, mir zu merken, welche Gänge zum Zimmer, zur Rezeption und zum Frühstücksraum führten. Denn der Holzbau des Ryokan war recht verwinkelt und in der Tradition älterer japanischer Holzhäuser erbaut. Vieles war um einen „Innenhof“ mit japanischem Garten angeordnet – aber dazu später mehr.

Die Kommunikation mit meiner Herbergswirtin erwies sich als recht einfach. Sie war ca. im Alter meiner Mutter und sprach recht gut Englisch. Im Gespräch erwähnte sie, dass ihre Tochter momentan in Deutschland, in Offenbach, wohne. Offenbar sah sie es als eine Art „Pflicht“ an, mich „in der Fremde“ zumindest innerhalb des Ryokans unter ihre Fittiche zu nehmen. Speziell beim Frühstück erwies sich dies als äußerst hilfreich, da sie mir später jeweils zeigte, wie bestimmte Speisen einzunehmen waren.

Nach dem Rundgang führe sie mich zur Rezeption, um dort die Anmeldeformalitäten zu erledigen. Dort bot sie mir auch an, die Wertsachen im eigenen Tresor zu deponieren und bei Bedarf abzuholen. Angesichts des Troubles beim Beschaffen von Bargeld fragte ich sofort nach, ob die Hotelrechnung in bar zu begleichen sei, oder ob ich eventuell mit Reiseschecks zahlen könne. Sie fragte nur, um welche Reiseschecks es sich handele. Als ich ihr diese zeigte, meinte sie nur „kein Problem, nehme ich – und auch American Express Traveller Schecks werden akzeptiert – wir sind hier schließlich nicht in der Provinz“. Das war dann das zweite Mal an diesem Tag, dass ich eine faustdicke Überraschung erlebte. Hier die totale Verweigerung gegenüber international üblichen Reisezahlungsmitteln, dort die sofortige Akzeptanz meiner Reiseschecks. Aber so ist (oder war) Japan eben.

Postscriptum: Meine Sorge, die Zimmernummer auf japanisch merken und verständlich aufsagen können zu müssen, erwies sich im Nachhinein als unbegründet. Als einziger Gaijin im Ryokan war ich quasi „unverwechselbar“. Kam ich abends in den Ryokan zurück eilte der Hausdiener freudestrahlend herbei, um dem Gaijin seine „Quadratlatschen“ zu übergeben und meine Straßenschuhe entgegen zu nehmen. Und morgens, beim Verlassen des Hotels kam er auch sofort mit meinen Straßenschuhen angerannt. Ich musste das Holzbrettchen quasi nie zeigen. Nachdem ich am ersten Morgen das Brettchen ziemlich verlegen in die Hand genommen hatte, aber sofort meine Schuhe bekam, ließ ich es heimlich in meiner Sakko-Tasche verschwinden. Ich habe es auch nie gebraucht, sondern erst bei der Abreise an der Rezeption abgegeben. Dass ich trotzdem mit manchen Eigenheiten des Ryokan zu kämpfen hatte, ist Gegenstand weiterer Geschichten.

Die obige Episode hat sich mir nachhaltig ins Gedächtnis gebrannt, obwohl beim Niederschreiben fast 20 Jahre vergangen sind. Auch die Wortschöpfung „Gaijin-San“ prägte sich mir sofort ein, so dass ich bereits kurz nach Rückkehr von meinem ersten Japanaufenthalt (von ingesamt drei) den Plan fasste, diese Erlebnisse in schriftlicher Form zu veröffentlichen. Und der Titel (des damals angedachten Buches) war auch sofort klar „Gaijin-San“. Nun ja, das Schreiben des Manuskripts hat lange gedauert – aber zumindest werden die Geschichten in Form dieses Blogs veröffentlicht – vielleicht gibt es das zugehörige Buch ja auch irgendwann.

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