Bahn fahren ist in Japan das Verkehrsmittel der Wahl – Millionen Japaner quetschen sich Morgens und Abends in öffentliche Verkehrsmittel, um zur Arbeit zu kommen und dann wieder nach Hause zurück zu kehren. Auch ich bin häufig Bahn gefahren. Und habe so manche Skurrilität erlebt. Aber vor der ersten Bahnfahrt galt es, ein Ticket zu kaufen. Aber was kostet dieses Ticket – eine einfache Frage, die Japaner an ihre Grenzen bringen kann.
Die Begebenheit ist mir auch noch ein viertel Jahrhundert später im Gedächtnis haften geblieben, weil sie etwas über die Denkwelten von Japaners und westlicher Menschen verrät (ich stelle das erst einmal gänzlich wertneutral in den Raum). Beim ersten Japan-Aufenthalt hatte mir der Chefingenieur vorgeschlagen, dass eine junge Angestellte mir am Wochennde Tokyo zeigen sollte. Dazu musste ich von Kawagoe, wo ich wohnte, per Bahn nach Tokyo fahren.
Konkret ging es um eine Bahnfahrt mit der Seibu-Shinjuku-Line von Hon Kawagoe (Bahnhof in Kawagoe) zur Endstation Shinjuku, einem Stadtteil von Tokyo. Da ich weder die Sprache sprechen noch japanische Schriftzeichen lesen konnte, nahm mich der Chefingenieur Donnerstags nach Feierabend an die Hand und meinte, “ich zeige dir, wo Du abfährst”. Ich bat ihn, mir zu erklären, wie ich an den Fahrkartenautomaten ein Ticket lösen konnte. Es war recht einfach, auf dem Automaten war ein Feld für die Endstation vorhanden, welches beim Drücken die passende Fahrkarte vom Automaten ausdruckte.
Nachdem er mir das Prozedere erklärt hatte, nannte er mir noch den Preis für die Fahrkarte – daran könne ich erkennen, dass ich das richtige Ticket gelöst habe. War für mich alles recht logisch und nachvollziehbar. Allerdings gab es noch was, was mich störte. Er gab mir zwei Mal zu verstehen, dass ich genau den am Automaten angezeigten Preis beachten solle, da andernfalls das Ticket falsch sei. Hier habe ich zwischenzeitlich eine englische Seite der Seibu-Group mit Hinweisen zum Fahrkartenkauf gefunden – und hier gibt es ein Bild eines Fahrkartenautomaten, die damals aber noch nicht mit Touchscreen ausgestattet waren.
Ich gab ihm zum verstehen, dass ich zuversichtlich sei, den Fahrkartenautomaten bedienen und das richtige Ticket ziehen zu können. Nur fragte ich ihn, ob er mit dem Preis wirklich sicher sei, oder ob das Ticket nicht ein klein wenig teurer sei. Er studierte darauf hin nochmals gut 2 Minuten den Fahrkartenautomaten, drehte sich um und sagte “alles richtig, ich habe dir den Preis genannt, genau den zahlst Du und alles ist gut”. Ich hörte mir dies geduldig an und fragte ihn, ob er sich wirklich, wirklich mit dem Preis sicher sei …
Er schaute mit mitleidig an, sah aber wohl berechtigte Zweifel in meinen Augen. Also griff er sich einen Bediensteten der Eisenbahngesellschaft, der dort herumlungerte. Man muss dazu sagen, dass in Hon Kawagoe an den Ausgängen der Bahngleise Bedienstete standen, die die Tickets der Reisenden kontrollierten und mit einem Locher endgültig entwerteten.
Beide studierten die Anzeigen des Fahrkartenautomaten, palaverten wohl gut 2 Minuten und kamen dann zum einem Ergebnis. Thoma-San drehte sich zu mir um und meinte, ich solle die genannte Taste am Automaten drücken, genau den vorher genannten Betrag einwerfen und bekäme dann Samstag mein Ticket. War nun bereits das dritte Mal, dass er mit den gleichen Preis genannt hatte – und er hielt mich wohl für leicht senil.
Als er fragte, ob nun alles klar sei, meinte ich nur “ich bin zuversichtlich, dass ich das Ticket richtig gezogen bekomme – nur mit dem Preis stimmt nicht, was ihr mir erzählt”. Er hob die Augen und sah mich zweifelnd an – der japanische Eisenbahnangestellte betrachtete mich ebenfalls, hatte er doch von den Erläuterungen des japanischen Kollegen meine Zweifel mitbekommen.
Ich deutete auf ein Schild, welches am Ausgang auf dem Boden aufgestellt war und bat den Chefingenieur doch bitte zu lesen, was auf diesem Schild stände. Ich hätte nämlich den Eindruck, dass dort der Hinweis zu finden wäre, dass die Tickets teurer würden. Er drehte sich zum Angestellten der Eisenbahngesellschaft um und es begann ein mehrere Minuten dauerndes Palaver zwischen den Beiden, die das Schild lasen und diskutierten.
Irgendwann drehte sich Thoma-San zu mir um, und sein Gesicht sprach Bände. “Born-San, Du kannst doch japanisch lesen?“ – unausgesprochen war “Du Saupreiß, hast mich hier verscheißert”. Ich hatte also Recht, am kommenden Samstag wurde der Ticketpreis erhöht. So musste ich ihm notgedungen erklären, dass ich zwar kein japanisch lesen, aber durchaus 2+2 addieren könne. Auf dem Schild konnte ich das Datum 1.4.1989 (1989 年 04月 01日) lesen. Und irgendwo hatte ich mitbekommen, dass am 1. April 1989 in Japan die Mehrwertsteuer eingeführt werden sollte. Da der 1. April in 1989 auf einen Samstag fiel, war mir irgendwie klar, dass mein Ticket um die Märchensteuer teurer würde.
Für die Japaner war es aber außerhalb jeder Möglichkeit, dass der vom Automaten angezeigte Fahrpreis geändert würde – das Schild mit der Ankündigung der Fahrpreiserhöhung wurde von diesen als Randnotiz nicht wahrgenommen. Mit meiner Kombinatorik hatte ich also ins Schwarze getroffen und die Japaner (ungewollt) sauber ausmanövriert. Aber ein Gutes hatte diese Sache: Ich stieg in der Achtung des Chefingenieurs gleich um zwei Stufen – er hatte nun nämlich erneut gelernt, dass er mir nicht so leicht ein X für ein U vormachen konnte. Und der Umstand, dass ich (ganz entgegen den Gewohnheiten der übrigen Werksbesucher) japanisch frühstückte, aß und wohnte, trug ebenfalls dazu bei, dass ich ein kleines Fitzelchen ernster genommen wurde …
… das war das erste “Abenteuerchen” in Punkto Bahn fahren. Ich sollte noch einiges zu “wuppen” haben – denn im Gegensatz zum U-Bahn-Netz in Tokyo, wo die Stationsnamen in Kanji-Zeichen und in Romanji (westliches Alphabet) verzeichnet waren, gab es so etwas in der Provinz nicht. Da galten Kanji-Zeichen und Umschreibungen in Hiragana und Katagana als das einzig Wahre. Aber dazu später mehr.