Steigende Unfallzahlen bei Elektro-Tretrollern rufen inzwischen Ärzte auf den Plan. Der Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Andreas Gassen, fordert ein komplettes Verbot der neuen Fahrzeuge, um die Unfälle mit Verletzten zu vermeiden.
Es wurde vor der Verabschiedung der Elektrokleinstfahrzeugeverordnung vor den Risiken gewarnt – und es wird seit der Freigabe der Elektro-Tretroller zum 15. Juni 2019 vor den Unfallrisiken gewarnt. Hier im Blog greife ich ja immer wieder Unfälle und Risiken als Warnung auf. Aber so richtig ernst nehmen die eScooter-Piloten das wohl nicht. Die Fahrzeuge sind cool und außerdem ist alles Panikmache.
Heute werde ich allerdings mal wieder von der Wirklichkeit links und rechts überholt. Am Sonntag habe ich den Beitrag Klinik Hamburg: Mehr eScooter-Unfälle als bei Fahrrädern auf Vorrat zur heutigen Veröffentlichung geschrieben. Mir war eine Aussage einer Hamburger Klinik in die Finger gefallen, wo Mediziner feststellen, dass man mehr eScooter-Unfallopfer behandeln muss als verunfallte Fahrradfahrer. War aber wieder nur eine Einzelmeinung.
(eScooter, Symbolbild, Quelle: Pexels, Magda Ehlers, freie Nutzung)
Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) wird deutlich
Jetzt hat der Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Andreas Gassen, in der Neue Osnabrücker Zeitung (Paywall, der Weser-Kurier hat es frei zugänglich gehalten, den Pressetet gibt es hier) ein Verbot von E-Tretrollern gefordert. Gassen sagt:
Nur das [generelle Verbot] würde helfen, Verletzungen zu vermeiden. Überall dort, wo diese Fahrzeuge inzwischen rumfahren, haben wir deutlich mehr Verletzte.
Die Argumente Gassens sind nicht von der Hand zu weisen. Die Fahrer sind eine wachsense Gefahr für die Allgemeinheit und sich selbst. Da werden Kreuzungen einfach mal so 'blindlings' überquert, man ist trotz Verbots zu zweit oder betrunken unterwegs und kennt sich mit den Fahrzeugen auch nicht aus. Vor wenigen Stunden habe ich den Beitrag eScooter fahren: Aller Anfang ist schwer … veröffentlicht, der in einem Video zeigt, wie schnell man bei kleinsten Fahrfehlern mit einem eScooter stürzen kann. Die Ärzte sehen in der Notfallaufnahmen der Kliniken komplexe Brüche von Armen und Beinen, aber es gibt auch (teils schwere) Kopfverletzungen. Leider sind auch Todesfälle (im Ausland) mit eScootern zu vermelden. Der Mediziner hat ein klares Urteil:
Die schlimmsten Befürchtungen sind eingetreten. Aus unfallchirurgischer Sicht sind E-Tretroller eine Katastrophe. Aber das war absehbar. Aus ärztlicher Perspektive war es unverantwortlich, grünes Licht für E-Tretroller zu geben. Es gibt auch keine Notwendigkeit für diese Gefährte. Sie gehören nicht auf die Straße und schon gar nicht auf den Gehweg. Die Rettungsstellen sind schon voll genug.
Gassen sieht in der Einführung eines E-Tretroller-Führerscheins daher keine Lösung. Auch das Anbringen von Blinkern sei keine Abhilfe.
Unfallforscher widerspricht
Interessant ist die Aussage des Unfallforscher Siegfried Brockmann vom Gesamtverband der Versicherer (GdV), der der Forderung des Mediziners in der Neue Osnabrücker Zeitung widerspricht:
Ein Verbot der E-Tretroller so kurz nach der Einführung zu fordern ist Quatsch. Es war von vornherein klar, dass, wenn wir dieses zusätzliche Verkehrsmittel auf unseren Straßen zulassen, es zu Unfällen kommen wird. Wir stellen auch schwere Unfälle unter Beteiligung von Radfahrern fest – aber es würde niemand auf die Idee kommen, sie im Straßenverkehr zu verbieten."
Der Unfallforscher findet, dass es lediglich wichtig sei, Fehlentwicklungen, etwa durch mehr polizeiliche Kontrolle, zu beseitigen.
Was wir brauchen, ist mehr polizeiliche Kontrolle. Es gibt zu viele Nutzer von E-Tretrollern, die zu zweit oder auf dem Gehweg fahren oder unter Alkoholeinfluss unterwegs sind."
Da die Polizei nur begrenzte Ressourcen habe, müssten Bußgelder einschlägig erhöht werden, um Verbesserungen herbeizuführen. Aktuelle Unfallstatistiken zu E-Scootern liegen dem GdV laut Brockmann bislang noch nicht vor. Die Polizei fängt gerade erst mit der punktuellen Erhebung an. Ab Januar sollen die Zahlen dann flächendeckend erhoben werden.
Ist natürlich eine zulässige Sichtweise – aber nur mal am Rande bemerkt: Klar, es gibt schwere Unfälle mit Fahrrädern. Nur ist deren Nutzung wesentlich breiter aufgestellt und dort sind die gefahrenen Kilometer deutlich höher. Elektro-Tretroller sind aber eher Hipster-Ding und Experiment, welches auf den Knochen naiver junger Leute ausgetragen wird.
Altmeier gegen Verbote
Spiegel Online zitiert hier Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU). Dieser hatte sich am Wochenende in Zeitungen der Funke-Mediengruppe gegen strengere Regeln für die elektrischen Tretroller ausgesprochen. Er sei für die "Freiheit im Straßenverkehr", sagte Altmaier, da es gebe ohnehin schon "mehr als genug Verbote". Wichtig sei aber, dass die Sicherheit aller Verkehrsteilnehmer gewährleistet bleibe. Altmeier ist also mal wieder mit der Quadratur des Kreises befasst.
Ein interessanter Abriss der Geschichte findet sich in diesem Artikel (wobei die Blinkerpflicht fehlerhaft genannt wird, die sind nur erlaubt, aber nicht vorgeschrieben, siehe auch), zum 15. Juni 2019 erschienen. Der TüV forderte eine 'Regulierung mit Augenmaß' und der Bundesverband eMobilität forderte 'Experimentierfelder'. Schön, dass man das auf den Knochen der eScooter-Piloten (alles freiwillig) ausprobiert.
Schwierige Kiste, aber es muss was passieren
Es bleibt eine schwierige Kiste und ich kann die Argumentation der Mediziner deutlich besser nachvollziehen als die Position des Unfallforschers – obwohl er in Punkto Verbot nach 2,5 Monaten Recht hat. Aber es bleibt festzuhalten, dass die eScooter die 'vielen Versprechen' in Sachen Nachhaltigkeit und Umweltschutz nicht einhalten, wir werden als Gesellschaft die (Unfall-)Folgen tragen, nur weil einige Firmen als Verleiher (mit Startup-Investoren im Hintergrund) oder Hersteller der Geräte ein Geschäftsmodell sehen. Das bleibt zumindest zu hinterfragen.
Deutsche Hysterie?
Ist das mal wieder typisch deutsche Verbotsdenke? Mitnichten, wenn ich mal über den Schüsselrand der deutschen Befindlichkeiten blicke. Nur mal ein paar Artikel der letzten Tage: Mailand verbietet nach Unfall eScooter, Tel Aviv will eScooter verbieten, Paris führt seit Juni 2019 drastische Regeln für E-Roller ein. Selbst aus den USA liegen mir Meldungen über Verbote vor.
Ich möchte noch eine kleine Ergänzung anbringen – in den sozial Media-Kanälen geht es ja teilweise in der Art 'tausende Fahrrad- und Autounfälle, aber eScooter verbieten'. Aus dieser Diskussion halte ich mich raus – es war eine Schnapsidee, die Dinger in der aktuellen Form frei zu geben. Aber gerade ist mir der folgende Tweet unter die Augen gekommen.
After 1 month of tracking #escooter injuries: Here's what professionals at #Sentara found https://t.co/5dOCdAUcRZ#virginiabeach @sentarahealth pic.twitter.com/UkIJNXpe06
— Lucretia Cunningham (@Lucretia_News) September 9, 2019
Da geht es um Zahlen aus einer US-Klinik in Virginia Beach, wo sich die Mediziner die Unfalldaten des letzten Monats angesehen haben. Zwei Mal mehr Verletzte von eScooter-Unfällen als Opfer von Autounfällen sind schon eine klare Ansage. Und noch was: Die Schwere der Unfallverletzungen bei eScootern ist mit denen von Motorrad- und Autounfällen vergleichbar. Häufig müssen neurologische Behandlungen erfolgen.
"Wir hatten gerade einen 79-jährigen Mann, der einen E-Scooter ausprobieren wollten. Er stürzte und brach sich die Hüfte", so ein Klinik-Mitarbeiter. "Die Unfälle überschreiten alle sozioökonomischen Grenzen, alle Ethnien und alle Altersgruppen." Etwa die Hälfte dieser 29 Unfallopfer musste ins Krankenhaus eingeliefert werden", sagte ein verantwortlicher Programm-Manager der Klinik. "Die Mehrheit der Verletzungen sind gebrochene Arme und Beine, die nächstgrößere Gruppe sind Kopfverletzungen."
Die signifikante Anzahl und Schwere von Verletzungen im Zusammenhang mit E-Scootern hängt auch damit zusammen, dass die Fahrer ohne Helm fuhren. Hier werden Anbieter wie Bird und Lime in die Verantwortung genommen, die endlich ein öffentliches Bewusstsein schaffen sollen, wie man einen E-Scooter sicher benutzt.
Es ist ein darwinistisches Experiment, dessen Kosten die Allgemeinheit trägt. Aber vielleicht hat sich das Thema eh bald erledigt, wie ich im Artikel eScooter-Sommermärchen: Ist der Hype Ende 2019 vorbei? ausführe.
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